Der Relative-Stärke-Effekt
"Kurse haben ein Gedächtnis", so lässt sich eine doppelte Anomalie zusammenfassen, nach der ehemalige Siegeraktien weiterhin Sieger bleiben oder aber zu Verlierern werden. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man auf die zeitlichen Fristen achtet. So setzt sich über mittlere Perioden von 6 bis 12 Monaten ein bestehender Kursimpuls, ein Momentum, fort, während es sehr kurzfristig, d.h. nach einem Monat, einer Woche oder gar nur einem Tag, aber auch nach drei bis fünf Jahren zu Gegenreaktionen kommt, in denen sich die regressiven Tendenzen der Börsen- und Wirtschaftsentwicklung ausdrücken.
Die Diskussion dieser Kursentwicklungen begann mit Robert A. Levy, der 1967 in seiner Dissertation den Begriff der Relativen Stärke prägte. In dieser Studie untersuchte er die Kurse von 200 Aktien der New York Stock Exchange für den Zeitraum 1960 bis 1965. Dabei beobachtete er, dass Aktien, die sich bereits einige Zeit besser und damit "relativ stärker" als der Markt entwickelt hatten, diese positive Kurstendenz auch noch weiterhin fortsetzten. Das gilt jedoch nur innerhalb zeitlicher Begrenzungen. So fand Levy bei näherer Betrachtung, dass Aktien meist nur sechs bis zwölf Monate als relativ stark zu bezeichnen waren. Dann schien der Markt zumeist neue Favoriten zu suchen.
Mit dieser Liste konstruierte Levy zwei Investmentstrategien. Zunächst prüfte der Doktorand, wie sich ein Depot entwickeln würde, das die obersten 20 Aktien, also das oberste Dezil seiner Liste mit 10 % Depotanteil, umfasste. Jede Woche wurde dieses Depot kontrolliert. Eine Auswechslung erfolgte erst, wenn eine von den im Depot enthaltenen Aktien in Levys Liste auf einen der letzten 40 Plätze abgerutscht war. In diesem Fall wurde diese Aktie aus dem Depot entfernt und gegen die höchstplatzierte, aber noch nicht im Depot enthaltene Aktie ausgetauscht. Das Resultat der Strategie war sehr erfreulich. Levys Aktien schlugen in einem Fünfjahreszeitraum ihren Vergleichsindex im Schnitt um 9 Prozentpunkte pro Jahr.
Doch seine zweite Strategie brachte ein noch besseres Ergebnis. Levy nahm zu Beginn der 5 Jahre nur die obersten 10 Aktien aus seiner Liste in sein Depot auf und verkaufte Aktien bereits, wenn sie in der Liste auf einen der letzten 60 Plätze gefallen waren. Dadurch verbesserte sich das Ergebnis gegenüber der ersten Strategie. Nun schlug das Depot seinen Vergleichsindex um 15 Prozentpunkte pro Jahr.
Es kann sich also auszahlen, wenn man seine Depotwerte auf die besten "Sieger" konzentriert und sich rasch wieder von ihnen trennt, wenn sie nicht mehr die Gunst des Marktes genießen.
Norman Fosbacks Bestätigung
Bereits 1975 veröffentlichte der Finanzexperte Norman Fosback in Anlehnung an Levy eine wesentlich umfangreichere Studie mit 750 Aktien der AMEX, die er über 8 Jahre (1963 - 1971) beobachtet hatte. Relative Stärke definierte er dabei als Änderung des Durchschnitts in den letzen 13 Wochen gegenüber dem der letzten 30 Wochen. Trotz dieser leicht abweichenden Definition fand Fosback die Ergebnisse Levys weitgehend bestätigt. Das Sieger-Quintil erreichte eine Überrendite von gut 5 Prozentpunkten jährlich, während die schlechtesten 20% der Aktien eine Unterrendite von 5,6 Prozentpunkten pro Jahr erlitten. Zusätzlich konnte Fosback seine Vermutung bestätigt finden, nach der Aktien, die in einer nach relativer Stärke sortierten Liste ganz unten standen, auch die schlechteste künftige Kursentwicklung erlitten.
Da diese Vorgehensweise relativ mühsam ist, haben spätere Untersuchungen die Sieger und Verlierer einfacher definiert, indem sie nur deren Rendite für einzelne Zeiträume berechnet und die jeweils besten Aktien als Sieger und die schlechtesten als Verlierer definiert haben. Nach dieser Selektion in einer Formationsperiode wurde dann die Renditeentwicklung in einer anschließenden Testperiode ermittelt.
Die Momentumstrategie nach Jegadeesh/ Titman
Danach sank dann die Überrendite wieder, und zwar auf 9,5 Prozentpunkte nach einem Jahr und reduzierte sich während der folgenden 24 Monate auf unter Prozentpunkte, bevor sie nach etwa 30 Monaten ganz verschwand.
In diesen Zahlen sind jedoch die Transaktionskosten nicht berücksichtigt, sodass unter realitätsnäheren Annahmen eine mehr als sechsmonatige Halteperiode vorteilhafter sein kann, da sich bei einer Halteperiode von einem Jahr somit Transaktionskosten sparen lassen, wodurch die Renditen von 12 Prozentpunkten und 9,5 Prozentpunkten enger zusammenrücken.
Die Überrendite der Momentum-Aktien nach O'Shaughnessy
Auch der US-amerikanische Börsenkenner und Bestsellerautor James O'Shaughnessy untersuchte Momentumeffekte für einen 42-jährigen Untersuchungszeitraum. Dabei wählte er eine Formationsperiode von zwölf Monaten und fand die bereits vorliegenden Ergebnisse bestätigt, allerdings mit einigen Besonderheiten, die den Anleger mit nützlichen Zusatzinformationen versorgen können. Insgesamt schlugen zwar die Sieger wie erwartet den Markt, allerdings nur mit einer bescheidenen Überrendite von 1,5 Prozentpunkten jährlich, während die Verlierer eine kräftige Unterperformance von 10,7 Prozentpunkten jährlich erlitten. Bei den großen Gesellschaften sah es hingen anders aus. Hier erzielten die Siegeraktien eine Überrendite von 5,1 Prozentpunkten, während die Verliereraktien erneut mit einer Unterrendite von allerdings nur 2,3 Prozentpunkten hinten lagen.
Der rationale Anleger sollte also nur Aktien mit einem positiven Momentum kaufen und die Verlierer meiden oder schnell abstoßen, wenn sie sich in seinem Portfolio befinden. Das gilt besonders für die kleinen Werte.
Momentum-Gewinne in Deutschland
Die Erfolge einer Momentum-Strategie sind nicht nur ein amerikanisches Phänomen. Überrenditen dieser Auswahlkriterien fand man bereits sehr früh auch auf dem deutschen Aktienmarkt. So konnten Schiereck/ de Bondt/ Weber in einem Aufsatz von 1999 für den Zeitraum 1961-1991 signifikante Profite nachweisen. Schiereck und Weber testeten für die 357 Aktien, die zwischen 1961 und 1992 in Frankfurt amtlich gehandelt wurden, verschieden lange Formations- und Halteperioden. Als Bewertungsmaßstab vergleichen sie dabei 20 Sieger- mit 20 Verlierer-Aktien. Die höchste Überrendite für die Käufe von Aktien mit guter vorangegangener Performance fanden sie mit 4,15 Prozentpunkten für eine Formationsperiode von sechs und eine Halteperiode von zwölft Monaten. Für diesen Zeitraumkombination war auch die Differenz zwischen den Entwicklungen alter Sieger und Verlierer am größten.
Für eine sechsmonatige Halteperiode brachte hingegen eine einjährige Formationsperiode bei der Auswahl der Sieger die höchsten Überrenditen. Auch eine zeitliche Besonderheit deckt sich mit den US-amerikanischen Ergebnissen; denn bei einer sechsmonatigen Momentum-Strategie waren die Ergebnisse erheblich höher, wenn die Testperiode im Juli begann.
Diese
Ergebnisse wurden im Folgejahr durch eine Studie von August/ Schiereck/ Weber bestätigt,
die Kurse für den Zeitraum 1974 –1997 benutzten.
Für die
drei Autoren bestätigen ihre Ergebnisse den nachhaltigen Erfolg von
Momentumstrategien auch für risikoadjustierte Renditen. Unter Berücksichtigung
des Renditerisikos fällt die Renditedifferenz zwischen Sieger- und
Verlierer-Portefeuilles sogar eher höher aus. Dabei zeigen die Ergebnisse
auffallende saisonale Renditemuster. Mit diesem Erfolg wird auch die Frage nach
der Erklärbarkeit der gefundenen Überrenditen evident.
Die Internationalität der Momentum-Gewinne
Rouwenhorst hat aus den Aktien von 12 europäischen Ländern internationale Sieger- und Verlierer-Portfolios gebildet. Das Ergebnis ist für Formations- und Halteperioden von 3, 6, 9 und 12 Monaten eindeutig: die Sieger-Aktien schneiden um einen Prozentpunkt pro Monat besser ab als die Verlierer. Betrachtet man nur die Überrenditen der Sieger, durch deren Kauf man von diesem Effekt profitieren kann, so hat man bei einer Transaktionskosten freundlichen Halteperiode von zwölf Monaten mit der Wahl einer sechsmonatigen Formationsperiode die besten Karten. Hier ergibt sich für das Sieger-Dezil eine monatliche Rendite von 1,95%. Allerdings sind die Abweichungen gegenüber einer Formationsperiode von neun Monaten (1,93%) gering. Die beste Kombination ist ohne Berücksichtigung von Transaktionskosten eine Formationsperiode von 9 Monaten und eine anschließende halbjährige Halteperiode. Hier beträgt die durchschnittliche monatliche Rendite 2,13%.
Monatliche
Rendite der Gewinner-Aktien bei unterschiedlichen Halteperioden
in % (1980-95)
Formationsperiode
|
3
Monate
|
6
Monate
|
9
Monate
|
12
Monate
|
3 Monate
|
1,87
|
1,92
|
1,90
|
1,91
|
6 Monate
|
2,08
|
2,06
|
2,04
|
1,95
|
9 Monate
|
2,12
|
2,13
|
2,04
|
1,93
|
12 Monate
|
2,19
|
2,09
|
1,97
|
1,85
|
Rouvenhorst, S.270
Dieses sehr deutliches Abebben des Momentums lässt sich in der folgenden Tabelle über die Entwicklung der Renditen von Sieger- und Verlierer-Aktien in verschiedenen Zeiträumen sehr eindrucksvoll ablesen. Danach macht es keinen Sinn, die Siegeaktien deutlich mehr als ein Jahr zu halten, da dann die Unterschiede in der Kursentwicklung nicht mehr bestehen, ja, sich sogar leicht umzukehren scheinen.
Zeitliche Wirkungen des Momentums bei einer halbjährigen Formationsperiode (1977-93 )
Halteperiode
|
Verlierer
(Dezil 1)
|
Sieger
(Dezil 10)
|
6 Monate
|
0,61
|
1,49
|
1 Jahr
|
1,43
|
2,97
|
2 Jahre
|
2,05
|
1,99
|
3 Jahre
|
1,94
|
2,06
|
Chan/ Jegadeesh/
Lakonishok, S. 1688
Erklärungsansätze für Momentum-Effekte
Wie lassen sich nun diese Ergebnisse erklären, die
grundlegenden Erwartungen der EMH widersprechen? DeLong/Schleifer/ Summers/
Waldmann (1990) betrachten ein Modell, in welchem es neben rationalen
Spekulationen auch Anleger mit einer "positiven fedback"-Regel gibt.
Damit in sind Investoren gemeint, die einem Kurstrend aus der
Vergangenheit folgen, also Aktien
kaufen bzw. verkaufen, wenn die Kurse steigen (fallen) und dadurch die aktuelle
Preisentwicklung verstärkt, was mit einer positiven Rückkopplung (feedback)
verbunden ist. Solche Anleger werden daher als "Positive-Feedback"
Anleger (PFA) bezeichnet.
Dieses Verhaotensmodell impliziert durch das Verhalten der
PFA positive Korrelationen zwischen den Aktienrenditen in der kurzen Frist,
jedoch negative Korrelationen der Aktienrenditen in der langen Frist, wenn sich
die Preise wieder den Fundamentalwerten annähern. Das Modell erklärt auch
Überreaktionen des Aktienmarktes auf neue Informationen infolge der
"postiven Feedback"-Strategie.
Neben diesem Anlegerverhalten, das sich an Kurstrends orientiert, können Momentumeffekte auch auf den Nachrichtenfluss sowie die Reaktionen der Marktteilnehmer auf neue Nachrichten zurückgeführt werden, wobei die neuen Nachrichten erst allmählich eingepreist werden. Auch können fundamentale Trends positive bzw. negative Nachrichtenfolgen auslösen.
Aktuelle Situation
Monatliche Momentum-Effekte in zwei Zeiträumen
(Überrenditen in Prozentpunkten)
Momentumdezil
|
1965-1998
|
1965-2009
|
Dezil 1 (Gewinner)
|
1,65
|
1,51
|
Dezil 2
|
1,39
|
1,28
|
Dezil 3
|
1,28
|
1,19
|
Dezil 4
|
1,19
|
1,10
|
Dezil 5
|
1,17
|
1,09
|
Dezil 6
|
1,13
|
1,01
|
Dezil 7
|
1,11
|
0,99
|
Dezil 8
|
1,05
|
0,91
|
Dezil 9
|
0,90
|
0,75
|
Dezil 10 (Verlierer)
|
0,42
|
0,37
|
Wilson, S. 5
Quellen:
August,
Roland, Schiereck,
Dirk und Weber, Martin, Momentumstrategien am
deutschen Aktienmarkt: Neue empirische Evidenz zur Erklärung des Erfolgs, in:
Kredit und Kapital, 2000, S. 199–234.
Barroso, Pedro und Santa-Clara, Pedro, Managing the Risk of
Momentum, WP von April 2012.
Chan, Louis K. C., Jegadeesh, Narasimhan und Lakonishok, Josef, Momentum
Strategies, in: Journal of Finance, 1996, S. 1681 – 1713.
Daniel,
Kent, Jagannathan,
Ravi und Kim, Soohun, Tail Risk in Momentum Strategy
Returns, WP vom 1.Juni 2012.
Daske,
Stefan, Winner-Loser-Effekte
am deutschen Aktienmarkt, Berlin 2002.
De Long, J. Bradford, Schleifer, Andrei, Summers, Lawrence H. und Waldmann, Robert J., Positive
Feedback Investment Strategies and Destabilizing Rational Speculation, in:
Journal of Finance, 1990, S. 379-395.
Jegadeesh, Narasimhan und Titman, Sheridan, Returns to Buying Winners and
Selling Losers: Implications for Stock Market Efficiency, in: Journal of
Finance, 1993, S.65–91.
Levy, Robert A., Relative strength as a criterion für investment selection, in: Journal
of Finance, 1967, S. 595-610.
O’Shaughnessy, James, What Works on Wall Street, 1996.
Rouwenhorst, K. G., International Momentum Strategies, in: Journal of Finance, 1998,
S. 267-84.
Schiereck, Dirk, de Bondt, Werner und Weber, Martin, Contrarian and Momentum Strategies in
Germany, in: Financial Analysts Journal, 1999, S.
104-116.
Wilson, M. Scott, Are Momentum Strategies Still Profitable Work For
U.S. Equity, Working Paper, Oktober 2010.
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